Kommissionspräsidentin von der Leyen hält erste Rede zur Lage der EU
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Kommissionspräsidentin von der Leyen hat am 16.09.2020 ihre erste Rede zur Lage der EU gehalten. In einer fast 80minütigen Rede im Plenarsaal des Europäischen Parlaments blickte sie auf die schwierigen Zeit der Coronapandemie zurück und führte noch einmal die von der Europäischen Kommission initiierten Krisenreaktionsmaßnahmen und –programme auf, die gemeinsam mit dem Europäischen Parlament und dem Rat auf schnellstem Weg beschlossen worden seien. Daran anschließend stellte sie die für das kommende Jahr vorgesehenen Initiativen und Maßnahmen der Europäischen Kommission vor, und machte deutlich, dass die Coronakrise eine Chance für die EU sei, einen entschlossenen und selbstbestimmten Aufschwung herbeizuführen, mit dem Europa wirtschaftlich, ökologisch und geopolitisch voranschreiten könne. Die Menschen wollten die Unsicherheit und die Fragilität hinter sich lassen und sehnten sich nach einem Neuanfang. Die Europäische Kommission arbeite daher an einem nachhaltigen und transformativen Aufschwung, um „ein vitales Europa in einer fragilen Welt“ zu schaffen.
Kampf gegen Corona und Schutz der Gesundheit Europas in der Zukunft
Zu Beginn ihrer Rede dankte die Kommissionspräsidentin Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern für ihren unermüdlichen Einsatz während der Coronazeit, „Ihre Empathie, ihr Mut und ihr Pflichtbewusstsein sind uns Inspiration“. Sie berichtete dann, dass die EU, nachdem es erst keine Gelder und keine globale Strategie für die Bekämpfung der Pandemie gegeben habe, die Führung der „Global Response“ übernommen habe. Gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, den G20 (den größten 20 Industriestaaten der Welt), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und weiteren Partnern habe die EU erreicht, dass mehr als 40 Länder zusammen 16 Mrd. Euro für die Erforschung von Impfstoffen, Tests und medizinischer Behandlung für die ganze Welt mobilisiert hätten. Vor zwei Wochen sei die EU der COVAX-Allianz für einen globalen Impfstoffzugang beigetreten und habe 400 Mio. Euro bereitgestellt, damit nicht nur diejenigen Zugang zu sicheren Impfstoffen haben, die es sich leisten können, sondern alle, die sie brauchen. Denn niemand sei sicher, solange nicht alle sicher sind.
Gleichzeitig sagte sie, dass die Pandemie noch nicht vorbei sei und die EU mit großer Vorsicht, Verantwortung und Geschlossenheit auch in der kommenden Zeit handeln müsse. Daher plädiere sie weiter dafür, das vorgeschlagene Gesundheitsprogramm „EU4Health“ krisenfest zu machen und mehr Finanzmittel als im Juli vereinbart, vorzusehen. Außerdem schlage die Europäische Kommission folgende Maßnahmen vor, dass
- die Europäische Arzneimittel-Agentur und das Europäische Zentrum für die Prävention (ECDC) zusätzliche Befugnisse erhalten,
- eine Europäische Agentur für biomedizinische Forschung und Entwicklung - BARDA (Biological Advanced Research and Development Agency) aufgebaut werde,
- die Konferenz zur Zukunft Europas sich mit der Verteilung der Kompetenzen im Gesundheitsbereich befasse.
Zusätzlich wolle sie mit den EU-Mitgliedstaaten über die Zuständigkeiten im Gesundheitsbereich sprechen und in 2021 werde die Europäische Kommission zu einem Welt-Gesundheitsgipfel in Italien einladen.
Eine EU, die schützt
Im Zusammenhang mit dem Europäischen Aufbauplan „NextGenerationEU“ (Notfallinstrument ausgestattet mit 750 Mrd. Euro) machte von der Leyen noch einmal die große Bedeutung des Programms SURE deutlich, das mit fast 90 Mrd. Euro in 16 EU-Mitgliedstaaten helfe, Unternehmen bei der Erhaltung von Arbeitsplätzen zu unterstützen. An dieser Stelle betonte sie die Bedeutung der sozialen Marktwirtschaft als grundlegendes Prinzip der EU und die Notwendigkeit sie zu verfestigen. Es sei wichtig, Unternehmen mit ihren Arbeitnehmer/innen vor externen Schocks zu schützen, daher werde die Europäische Kommission unter Einhaltung der nationalen Souveränitäten einen Rahmenvorschlag für die Festlegung von Mindestlöhnen machen.
Ferner sagte sie Maßnahmen zu, um den Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion zu stärken (Vollendung Kapitalmarkt- und Bankenunion), den Schengen-Raum durch eine neue Strategie wieder voll funktionsfähig zu machen, die Industriestrategie der EU zu aktualisieren und die EU- Wettbewerbsregeln anzupassen.
European Green Deal – Emissionen bis 2030 um 55 Prozent senken
Der European Green Deal ist die Kernpriorität der Europäischen Kommission, damit soll Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent werden. Um dieses Ziel zu erreichen, schlage die Europäische Kommission vor, die Zielvorgabe für die Einsparung von CO2-Emissionen bis 2030 von 40 auf 55 Prozent zu erhöhen. Die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission habe ergeben, dass die europäische Wirtschaft und Industrie diese Zielvorgabe bewältigen könnten. Zugleich verwies von der Leyen auf erste Erfolge, so seien die Emissionen seit 1990 um 25 Prozent gesunken, gleichzeitig sei die Wirtschaft aber um 60 Prozent gewachsen. Für die Zielerreichung gebe es das feste Versprechen, keine Region und niemand zurückzulassen. Mit dem Fonds für einen gerechten Übergang würden Regionen in allen EU-Mitgliedstaaten unterstützt, die aufgrund emissionsstarker Industrien Unterstützung beim Strukturwandel benötigten (auch der Rhein-Kreis Neuss wird von Finanzmitteln des Fonds profitieren). Ferner seien folgende Maßnahmen geplant:
- 37 Prozent der Mittel von NextGenerationEU sollen direkt für die Ziele des Grünen Deals eingesetzt werden,
- 30 Prozent der Mittel sollen für den Wiederaufbaufonds über Grüne Anleihen an den Finanzmärkten beschafft werden; die EU sei führend bei grüner Finanzierung und Auflegung grüner Anleihen und Vorreiter beim Entwickeln eines zuverlässigen EU-Standards für grüne Anleihen.
- Investitionen in Leuchtturmprojekte, u.a. eine Wasserstoffstrategie „European Hydrogen Valleys“ schaffen (Aufgabe u.a. Produktion von Kraftstoffen für Fahrzeuge); außerdem müsse es eine Renovierungswelle geben (Nutzung ökologischer Baustoffe wie Holz und Einsatz kluger Technologien) und es sei die Errichtung von 1 Mio. Ladestationen für Elektrofahrzeuge vorgesehen
- Ein C02-Grenzausgleich für Einfuhren in die EU soll geschaffen werden, damit europäische Unternehmen für ihre Anstrengungen im Klimaschutz nicht benachteiligt werden.
- Die Errichtung eines europäischen Bauhauses, in dem Architekten, Künstler, Studenten, Ingenieure und Designer an einem neuen Kulturprojekt für Europa arbeiten
Dekade der Digitalisierung
Die Kommissionspräsidentin betonte, dass das kommende Jahrzehnt eine „Digital Decade“ für Europa werden müsse: „Europa muss jetzt die Führung im digitalen Bereich übernehmen – oder es wird lange anderen folgen müssen.“ Daher müssten klar definierte Ziele für das digitale Europa bis 2030 gesetzt werden für Bereiche wie Konnektivität, digitale Kompetenzen und öffentliche Verwaltung. Insgesamt sollten 20 Prozent von NextGenerationEU in die Digitalisierung fließen. So sind unter anderem vorgesehen:
- der Aufbau einer europäischen Datencloud auf Basis des Projekts GAIA-X. Hier geht es darum, dass sich die Menge an Industriedaten in der Welt in den nächsten fünf Jahren vervierfachen werde und damit die damit verbundenen Chancen. Industriedaten seien Gold wert, wenn es darum gehe, neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, leider sei es aber Realität, dass 80 Prozent der Industriedaten heute nur gesammelt aber nicht genutzt würden, was eine große Verschwendung darstelle
- Regeln für die Künstliche Intelligenz und Vorschläge für eine digitale europäische Identität, „um alles zu tun, vom Steuern zahlen bis zum Fahrrad mieten“,
- der Aufbau einer digitalen Infrastruktur von Breitband über 5G bis 6G, denn noch immer seien 40 Prozent der Menschen in ländlichen Gebieten ohne Zugang zu schnellen Breitbandverbindungen
- die Einführung einer Digitalsteuer, falls im Rahmen der OECD keine Einigung erzielt wird.
- Investition von 8 Milliarden Euro für die Entwicklung der nächsten Generation von Supercomputern („Spitzentechnologie made in Europe“)
Ein vitales Europa in einer fragilen Welt
Die Kommissionspräsidentin machte deutlich, dass das multilaterale System reformiert werden müsse, es sei eine Wiederbelebung und Reform des multilateralen Systems, einschließlich der Vereinten Nationen, der WTO und der WHO erforderlich. Für die EU forderte sie im Bereich Außenbeziehungen Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit – „zumindest bei Menschenrechtsverletzungen und Sanktionen.“
Nach dem Motto „ein Neuanfang mit alten Freunden“ will sie eine neue transatlantische Agenda mit den USA entwickeln (z.B. in den wichtigen Bereichen Handel, Technologie und Steuern) und eine Einigung mit dem Vereinigten Königreich erzielen, sofern es dem Austrittsabkommen, „einer Sache des Rechts, des Vertrauens und des guten Glaubens“ nachkommt, von dem „nicht abgerückt wird.“ Auch die Beziehungen mit China müssten zum Nutzen beider Partner weiterentwickelt werden, denn diese seien strategisch wichtig, wenn auch nicht einfach, da es unterschiedliche Regierungs- und Gesellschaftssystem gebe.
Geplant sind ferner ein Konjunkturpaket für den Westbalkan und weiterhin gute Beziehungen zu Afrika: denn die EU und Afrika seien „nicht nur Nachbarn, sondern auch natürliche Partner“. Afrika werde ein entscheidender Bündnispartner sein in dem Vorhaben, die Welt von morgen zu gestalten, z.B. in den Bereichen Klima, Digitales und Handel.
Präsidentin von der Leyen zeigte sich entschlossen, das „diplomatische Gewicht und die wirtschaftliche Schlagkraft Europas ein(zu)setzen“ (z.B. für einen offenen und fairen Handel in der Welt), und zwar in Bezug auf ethische Fragen, Menschenrechte und Umweltfragen (z.B. Bestimmung von Schutzgebieten in der Antarktis, ehrgeizige Koalitionen gegen die Abholzung von Wäldern). Die EU werde sich für eine gerechte Globalisierung einsetzen und wolle im Rahmen der OECD und G20 ein globales Abkommen über die Besteuerung der digitalen Wirtschaft erreichen. Sollte es aber zu keiner Einigung auf ein gerechtes Steuersystem mit langfristigen nachhaltigen Einnahmen kommen, werde die EU Anfang des kommenden Jahres einen eigenen Vorschlag machen; „Ich möchte, dass Europa weltweit für Fairness eintritt“, sagte von der Leyen. Außerdem arbeite die EU an einem „Carbon Border Adjustment Mechanism“ (CO2-Ausgleichssystem´), das sowohl ausländische Hersteller als auch EU-Importeure dazu ermutigen solle, ihren CO2-Ausstoß zu verringern und gleichzeitig gleiche Wettbewerbsbedingungen schaffen wolle.
Ein Neustart in der Migrationspolitik
Die Kommissionspräsidentin kündigte für den 23. September die Vorlage ihrer Reformvorschläge für die Migrations- und Asylpolitik an. Diese sollten dafür sorgen, dass die Asyl- und Rückführungsverfahren enger miteinander verknüpft werden, außerdem würden Maßnahmen zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität, zur Stärkung der Außengrenzen, zu engeren Partnerschaften mit Drittländern und zur Schaffung legaler Zugangswege vorgesehen.
In diesem Zusammenhang stellte von der Leyen in Aussicht, dass die Kommission „mehr Verantwortung übernehmen wird“ für die Bewältigung der Situation nach dem Brand im Lager von Moria, aber „wenn wir mehr tun, erwarte ich, dass alle Mitgliedstaaten mitziehen…Migration ist eine Herausforderung für ganz Europa — deshalb muss auch ganz Europa seinen Teil leisten.“
Rechtsstaatlichkeit
Zum Thema Rechtsstaat führte die Kommissionspräsidentin aus, dass dieser die Menschen vor dem Recht des Stärkeren schütze und jeden Tag Garant für die fundamentalen Rechte und Freiheiten seien, er garantiere Meinungs- und Pressefreiheit. Vor Ende September werde die Kommission ihren ersten Jahresbericht über die Rechtsstaatlichkeit verabschieden, der alle Mitgliedstaaten umfasst; er diene der Früherkennung von Herausforderungen und der Suche nach Lösungen. So dürften auch EU-Mittel nur unter Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ausgegeben werden.
Gegen Rassismus, Hassverbrechen und Diskriminierung
Zu Beginn dieses Kapitels zitierte Präsidentin von der Leyen den Friedensnobelpreisträger John Hume, der 1998 folgendes geschrieben habe: „Die Visionäre in Europa sind zu der Einsicht gelangt, dass Unterschiede keine Bedrohung, sondern ganz natürlich sind. Unterschiede sind im Wesen der Menschlichkeit begründet“. Diese Worte seien heute wichtiger und richtiger denn je. Die Europäische Kommission werde einen europäischen Aktionsplan zur Bekämpfung von Rassismus vorlegen, die Gesetze zur ethnischen Gleichbehandlung notfalls nachbessern und die Liste der Straftaten auf EU-Ebene auf alle Formen von Hassverbrechen und Hassreden ausweiten, unabhängig davon, ob sie auf Rasse, Religion, Geschlecht oder Sexualität abzielen. „So genannte LGBTQI-freie Zonen sind Zonen, in denen der Respekt vor Mitmenschen abhandengekommen ist. Dafür gibt es in unserer Union keinen Platz“, sagte von der Leyen.
Erstmalig soll eine Koordinatorin oder einen Koordinator für die Bekämpfung von Rassismus ernannt werden; sie oder er werde eine Strategie zur Stärkung der LGBTQI-Rechte vorlegen und auf die gegenseitige Anerkennung der familiären Beziehungen in der EU hinarbeiten.
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