Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hält Rede zur Lage der Europäischen Union
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Am 14.09.2016 hat der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, vor dem Plenum des Europäischen Parlaments die jährliche Rede zur Lage der Union gehalten. In einem dramatischen Appell rief er die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, in allen Bereichen zusammenzuarbeiten und zusammenzustehen, wo gemeinsame Lösungen am dringensten notwendig seien. "Die nächsten zwölf Monate sind entscheidend, wenn wir unsere Union wieder zusammenführen wollen", sagte Juncker. Denn Europa befinde sich am Scheideweg, es sei an den europäischen Nationen die Gründe der europäischen Einheit zu verteidigen. "Niemand kann das statt ihrer tun".
Gleichzeitig kündigte der Kommissionspräsident eine Reihe konkreter Initiativen an, um Wirtschaft und Wachstum zu stärken, u.a. ein Gesetzespaket zur Stärkung des digitalen Binnenmarktes und einen Vorschlag zur Verlängerung der EU-Investitionsinitiative bzw. zur Ausweitung der Europäischen Investitionsinitiative auf Afrika.
Die Arbeitslosigkeit sei zwar seit der Wirtschaftskrise gesunken, doch immer noch zu hoch. Die Menschen bräuchten fair bezahlte Jobs. Juncker begründet damit auch die Notwendigkeit zu Investitionen in junge Menschen und in Start-up-Unternehmen. Außerdem gelte es, entsandte Arbeitnehmer vor Sozialdumping zu schützen, daher dränge die Europäische Kommission auf die Verabschiedung der reformierten Entsenderichtlinie. In diesem Zusammenhang kündigte Juncker gleichzeitig die Stärkung der sozialen Rechte an.
Auch im internationalen Wettbewerb und bei der Besteuerung von Unternehmen will die Europäische Kommission aktiv werden; so soll mit stärkeren Handelsschutzinstrumenten die Stahlindustrie vor Importen zu Dumpingpreisen geschützt werden. Zudem ermahnte Juncker die EU-Mitgliedstaaten gemeinsam internationale Handelsabkommen durchzusetzen, da diese viele Arbeitsplätze sicherten: In der EU seien 30 Mio. Arbeitsplätze vom Export abhängig; jede Milliarde Euro mehr Handelsvolumen bringe Tausende neue Jobs. Zum CETA-Abkommen sagte Juncker: "Das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada ist das beste und fortschrittlichste Abkommen, das die EU je ausgehandelt hat", daher solle es schnell ratifiziert werden.
Zum Thema Terrorismus mahnte Juncker zu mehr Sicherheit; künftig solle festgehalten werden, wer über die EU-Außengrenzen ein- und ausreist, nationale Behörden und Nachrichtendienste müssten Informationen über Verdächtige austauschen; konkret sagte er "Wir werden unsere Grenzen mit der neuen Europäischen Grenz- und Küstenwache schützen, ich möchte, dass ab Oktober mindestens 200 zusätzliche Grenzschutzbeamte und 50 zusätzliche Fahrzeuge an der bulgarischen Außengrenze im Einsatz sind". Zu einer größeren Sicherheit trage auch die bessere Durchsetzung der außenpolitischen Interessen der EU bei. Er rief die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, militärisch und auch in der Rüstungsindustrie enger zusammenzuarbeiten. Um die Forschung und Entwicklung in diesem Bereich zu befördern, werde die Europäische Kommission bis Ende 2016 einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen. Zusätzlich forderte Juncker eine (Friedens)Strategie für Syrien und insgesamt eine stärkeren internationalen Einfluss der EU, indem die Außenbeauftragte der EU, Federica Mogherini zu einer echten Europäischen Außenministerin ernannt werde.
Schließlich ermahnte der Kommissionspräsident die EU-Mitgliedstaaten damit aufzuhören, alle europäischen Erfolge den Mitgliedstaaten zuzuschreiben und die Misserfolge nach Brüssel zu schieben. Diese Angewohnheit sei eine echte Gefahr für das europäische Projekt. Zusätzlich müsse Europa in den Mitgliedstaaten besser erklärt werden.
Hintergrund:
Jedes Jahr im September hält der Präsident der Europäischen Kommission vor dem Plenum des Europäischen Parlaments seine Rede zur Lage der Europäischen Union. In dieser Grundsatzrede geht der Präsident auf die wichtigsten Entwicklungen des laufenden Jahres ein, benennt Arbeitsergebnisse und Fortschritte und beschreibt gleichzeitig die wichtigsten Herausforderungen und Aufgabenfelder für das kommende Jahr.
An die Rede des Kommissionspräsidenten folgt eine Aussprache im Plenum (Fragen und Antworten). Die Rede ist der Startpunkt für den Dialog mit dem Europäischen Parlament und dem Rat zur Vorbereitung des jährlichen Arbeitsprogramms der Europäischen Kommission.
Kernbotschaften der Rede von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Einzelnen
Die europäische Art zu leben bewahren
Freizügigkeit: "Wir Europäer werden es niemals hinnehmen, dass polnische Arbeiter auf den Straßen von Harlow oder andernorts belästigt, angegriffen oder gar ermordet werden. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist ebenso ein gemeinsamer europäischer Wert wie unser Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus."
Todesstrafe: "Wir Europäer sagen ein klares "Nein" zur Todesstrafe. Denn wir glauben an den Wert des menschlichen Lebens und achten es."
Handel: "Das Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada ist das beste und fortschrittlichste Abkommen, das die EU je ausgehandelt hat. Ich werde gemeinsam mit Ihnen und mit allen Mitgliedstaaten darauf hinwirken, dass dieses Abkommen so bald wie möglich ratifiziert wird."
Datenschutz: "Europäer möchten keine Drohnen, die über ihre Köpfe kreisen und jede ihrer Bewegungen aufzeichnen oder Unternehmen, die alle ihre Mausklicks speichern. Denn in Europa spielt der Schutz der Privatsphäre eine Rolle. Das ist eine Frage der Menschenwürde."
Entsendung von Arbeitnehmern: "Arbeitnehmer sollten für gleiche Arbeit am gleichen Ort auch den gleichen Lohn erhalten. Europa ist nicht der Wilde Westen, sondern eine soziale Marktwirtschaft."
Wettbewerb: "In Europa werden Verbraucher vor Kartellen und Marktmissbrauch durch mächtige Unternehmen geschützt. Das gilt auch für Wirtschaftsgiganten wie Apple. In Europa nehmen wir es nicht hin, dass mächtige Unternehmen in Hinterzimmern illegale Steuerdeals aushandeln. Die Kommission achtet auf diese Steuerfairness. Das ist die soziale Seite des Wettbewerbsrechts."
Stahlindustrie: "Wir haben bereits 37 Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen in Kraft gesetzt, um unsere Stahlindustrie vor unfairem Wettbewerb zu schützen. Doch wir müssen mehr tun. Ich rufe alle Mitgliedstaaten und dieses Parlament dazu auf, die Kommission dabei zu unterstützen, wenn es darum geht, unsere handelspolitischen Schutzinstrumente zu stärken. Wir sollten keine naiven Freihändler sein, aber wir sollten in der Lage sein, genauso kraftvoll zu reagieren wie die Vereinigten Staaten."
Landwirtschaft: "Die Kommission wird unseren Landwirten immer zur Seite stehen, insbesondere wenn sie wie jetzt durch schwierige Zeiten gehen. Für mich ist es nicht akzeptabel, dass Milch billiger ist als Wasser."
Ein Europa, das stärkt
Urheberrecht: "Ich möchte, dass Journalisten, Verlage und Urheber eine faire Vergütung für ihre Arbeit erhalten. Dabei darf es keine Rolle spielen, ob ein Werk im Studio oder im Wohnzimmer entstanden ist, ob es offline oder online verbreitet wird, ob es über einen Drucker vervielfältigt oder zu kommerziellen Zwecken ins Netz gestellt wird."
Vernetzung: "Wir schlagen heute vor, bis 2020 die wichtigsten öffentlichen Orte jedes europäischen Dorfes und jeder europäischen Stadt mit kostenlosem WLAN-Internetzugang auszustatten."
Investitionen und Jobs: "Europa braucht massive Investitionen in seine jungen Menschen, in seine Arbeitsuchenden, in seine Start-up-Unternehmen. Wir schlagen heute vor, die Laufzeit des Europäischen Fonds für strategische Investitionen und seine Finanzierungskapazität zu verdoppeln."
"Ich kann und werde nicht akzeptieren, dass die Millennium-Generation, die Generation Y, möglicherweise die erste Generation seit 70 Jahren ist, der es schlechter geht als ihren Eltern."
Solidarität: "Die Solidarität ist der Kitt, der unsere Union zusammenhält. Aber ich weiß auch, dass das nur freiwillig geht. Solidarität muss von Herzen kommen. Sie kann nicht erzwungen werden."
Migration: "Wir legen heute eine ehrgeizige Investitionsoffensive für Afrika und die EU-Nachbarschaft vor mit einem Investitionspotenzial von 44 Mrd. EUR. Wenn die Mitgliedstaaten mitmachen, können wir bis zu 88 Mrd. EUR erreichen. Die neue Investitionsoffensive für Afrika wird Menschen Alternativen bieten, die sich andernfalls gezwungen sähen, auf der Suche nach einem besseren Leben den Tod zu riskieren."
Ein Europa, das verteidigt
Terrorismus: "Gemeinsam haben wir getrauert - gemeinsam müssen wir nun handeln."
"Im Angesicht des Schlimmsten, was die Menschheit hervorbringt, müssen wir unseren Werten und uns selbst treu bleiben. Wir, das sind demokratische, pluralistische, offene und tolerante Gesellschaften. Der Preis für diese Toleranz darf jedoch nicht unsere Sicherheit sein."
Sicherheit: "Wir werden unsere Grenzen mit der neuen Europäischen Grenz- und Küstenwache schützen. Ich möchte, dass ab Oktober mindestens 200 zusätzliche Grenzschutzbeamte und 50 zusätzliche Fahrzeuge an der bulgarischen Außengrenze im Einsatz sind."
Globales Europa: "Europa kann es sich nicht mehr leisten, militärisch im Windschatten anderer Mächte zu segeln oder Frankreich in Mali allein zu lassen."
"Eine starke europäische Verteidigung braucht eine innovative europäische Rüstungsindustrie. Deshalb werden wir noch vor Jahresende einen Europäischen Verteidigungsfonds vorschlagen, der unserer Forschung und Innovation einen kräftigen Schub verleiht."
Eine Europäische Strategie für Syrien: "Federica Mogherini, unsere Hohe Vertreterin und meine Vizepräsidentin, leistet hervorragende Arbeit. Aber sie muss unsere Europäische Außenministerin werden, mit deren Hilfe alle diplomatischen Dienste - von kleinen wie großen Ländern gleichermaßen - ihre Kräfte bündeln, um in internationalen Verhandlungen mehr Einfluss zu erlangen. Deswegen fordere ich heute eine Europäische Strategie für Syrien."
Eine Verteidigungsunion: "Europa muss mehr Härte zeigen. Dies gilt vor allem in unserer Verteidigungspolitik. Der Vertrag von Lissabon gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihre Verteidigungsfähigkeiten in Form einer ständigen strukturierten Zusammenarbeit zu bündeln, so sie dies wollen. Ich denke, jetzt ist der richtige Zeitpunkt, diese Möglichkeit zu nutzen."
Ein Europa, das Verantwortung übernimmt
"Ich rufe jeden Einzelnen der 27 Staats- und Regierungschefs, die den Weg nach Bratislava antreten, auf, sich drei Gründe zu überlegen, warum wir die Europäische Union brauchen. Drei Dinge, die sie bereit sind zu verteidigen und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen. Und für die sie dann auch rasch Taten folgen lassen."
"Ich habe jedes einzelne Mitglied meiner Kommission gebeten, in den nächsten beiden Wochen in den nationalen Parlamenten der Länder, die sie am besten kennen, über die Lage der Union zu diskutieren. Denn Europa kann nur mit den Mitgliedstaaten aufgebaut werden, niemals gegen sie."
"Es geht nicht an, dass die Kommission von Parlament und Rat zu einer Entscheidung gezwungen wird, wenn sich die EU-Länder untereinander nicht einigen können, ob sie die Verwendung von Glyphosat in Pflanzenschutzmitteln verbieten wollen oder nicht. Daher werden wir diese Regeln ändern - denn das ist keine Demokratie."
"Politisch zu sein heißt auch, technokratische Fehler sofort zu bereinigen. Die Kommission, das Parlament und der Rat haben gemeinsam beschlossen, die Roaminggebühren abzuschaffen. Dieses Versprechen werden wir halten. Nicht nur für Geschäftsleute, die zwei Tage ins Ausland reisen. Nicht nur für Urlauber, die zwei Wochen in der Sonne verbringen. Sondern für alle, die im Ausland arbeiten. Und für die Millionen von Erasmus-Studenten, die ein oder zwei Semester im Ausland verbringen. Sie werden nächste Woche einen neuen, besseren Entwurf zu Gesicht bekommen. Roaming sollte sein wie zu Hause sein."
"Verantwortung zu übernehmen bedeutet schließlich auch, dass wir uns gegenüber den Wählerinnen und Wählern zu verantworten haben. Deshalb werden wir vorschlagen, die absurde Regelung zu ändern, wonach Kommissionsmitglieder ihr Amt niederlegen müssen, wenn sie bei Wahlen zum Europäischen Parlament antreten wollen. Wir sollten die Kommissionsmitglieder ermutigen, die nötige Begegnung mit der Demokratie zu suchen. Und ihnen keine Steine in den Weg legen."
Quelle und weitere Informationen:
EU-Aktuell vom 14.09.2016
Wichtiger Hinweis: Sie sehen eine Archivseite. Diese Informationen geben den Stand des Veröffentlichungstages wieder (23.09.2016) und sind möglicherweise nicht mehr aktuell.